Freundin Hörerin

Die Gegenwart der Nacht macht alles schlimmer.
Die Phantasien der Lust entlaufen schnöde,
Die Uhr schreit häßlich in der Herzeinöde,
Ins Zimmer fliegen die früheren Zimmer.

Unter die Stirne flieht die Gliederherde.
Im Mund weißkleinen Zähnelichtes schreit es,
Und Schrecken wächst im Antlitz wie ein zweites:
Ach, ach, es friert über mich hin aus Erde.

Und das Bewußtsein glaubt noch nicht einmal
Der chemischen Erlösung von dem Leide.
Das Antlitz abgestreift an eine Weide,
Mit Felderarmen liegen wir im Tal.

Ich mußte haltlos altern aus der Jugend
In dieser weißen, häuserigen Stadt.
Auf krummem Himmel frei zu stehen matt,
Den Schädel in die Martermauern fugend.

Im Himmelsgrund voll Schatten, Wind und Straße
Erscheinen wir, die sich bewegend tun.
Aus Augen fliegt über den dunklen Schuhn
Der Regenbogen durch die Antlitzmasse.

Antlitze kommen auf in dem Tierhaar,
Die Einzelaugen an die meinen spülend.
Und ein Gesicht, Auswuchs der Seele, fühlend
Einschwebte Stirn zur Stirne, scheues Paar.

Wir arbeiten. Mich freut es, dich zu sehn
Freundinnenlippenrot, anthropomorph.
Wir bauen in die Stadt uns kleines Dorf
Schädelblut-Häuser und Arme-Alleen.

Das Herz geht in den Händen hin und her.
Die Augen füllen sich an einem Strahl,
Mit Bäumebildern, Städten an dem Meer.
Der Strahl ist aus der Sonne, Tag geheißen.

Erstveröffentlichungen:

  • Die weißen Blätter. Bd. 3, Jg. 1916, II. Quartal (April), S. 76-77
  • Die Aktion Bd. 5, Jg. 1915, Nr. 7/8 (13. Feb.)

Bevor

Wir haben unsere Anatomie
In einen Raum gestellt auf Teppichrot.
Hängende Hände. Und von Atemnot
Gedrehte Schädel fliehen sie.

Wir zeigen uns dem Laster. Die Hautflächen
Blutschimmernd, Helles atmend und verfeinert.
Ein Hengsterennen hundertfach verkleinert.
Die Nackenden beschäumt von Muskelbächen,

Daß wir aus uns ein Floß zusammenbänden,
Umarmt umarmend schwömmen auf dem Blut!
Berühre mich mit deinen Herzbluthänden!

Daß wir uns heilend in dem Fleische wüschen,
Kußnackt und leise lägen, ausgeruht,
Wie Mond und Wasser in den Weidenbüschen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 5, Jg. 1915, Nr. 7/8 (13. Feb.)

Als Sammeltitel “Drei Gedichte” zusammen mit Szene und Monogamie veröffentlicht.

Wir Dichter

Wie Einsamkeit das Ich im Auge dämmt.
Du ist nicht feil, und Du beginnt zu fehlen.
Geh durch die Menge, um Lächeln zu stehlen,
Verbrauche deine Küsse ungehemmt -:

Ein Schrei wärmt dir den Leib! Zu sehr allein.
Es gibt nur dies, unser Blut-Hoch und Ja,
Unsere Kunst, das Labsal anima!
Das Herz bewegt sich in das Wort herein.

Von den Stummheiten sollen wir aufbrechen!
Nicht nur anjahren in der Existenz.
Von Antlitzfrauen aufreizend umschwiegen

Werden wir jetzt, einmal und wenigstens,
Die Herzensröte an den Lippen kriegen.
Unseren Dialekt des Menschen sprechen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 50/52 (24. Dez.)


Nous les poètes

Solitude, comme elle emmure dans l’oeil le moi.
Tu n’es pas vénal et tu te retires.
Va à travers la foule voler des sourires,
Épuise tes baisers sans embarras – :

Un cri te brûle le corps ! Seul, trop.
Il n’y a que notre sang et ses vivats,
Les délices de notre art, cette anima !
Le cœur se meut à l’intérieur du mot.

De nos mutismes nous devons nous départir !
En existant ne pas seulement vieillir.
Encerclés de femmes-visages qui se taisent,

Maintenant et une fois au moins à notre aise
Nos lèvres porteront la couleur du coeur : carmin
Et parleront notre dialecte humain.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Vor dem Winter

In Landschaft mit dem armen schwarzen Klee
Krümmt sich der Schnellzug an den hellen Schienen.
Da fährt das Frauenantlitz im Coupé.
Vom schnellen Sonnenuntergang beschienen.

Bäume passierend, redend. Es wird Wind.
Der Himmel jagt die Ebene zu Ende.
Man hat das Häuserne und fühlt sich blind,
Der kleine Tag weint in die hellen Hände.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 48/49 (5. Dez.)

Literaturcafé

Wortwarenladen, wo es gurrt und murrt:
Des Hauses Echo, das hier Ego schreit:
Der Literat oder die Eitelkeit:
Das fürbaß schwatzende Gehirn Hans Wurst.

Es redet stets und muß beisammen sitzen.
Ist hier einer, der Zorn empfand und schrie!
Ihr richtet lieber Worte ab zu Witzen
Und äfft die Hölle mit Analgesie.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 34/35 (29. Aug.)

Erläuterungen:
Analgesie. Schmerzlosigkeit.


Café Littéraire

Ça gronde, ça roucoule, dans la boutique à paroles :
Il crie « Ego ! », l’écho de la maison ;
L’homme de lettres ou la prétention :
Cet inlassable verbiage du cerveau guignol.

Ça se rassemble, ça raconte toujours.
Y en a-t-il aucun pour crier, ressentir la colère !
Vous aimez mieux dompter ein blagues les discours,
Mais avec des sédatifs vous singez l’enfer.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

In der Natur

Über die Erde wehen Farbenböen,
Ein Schwarm von Feldern, der sich niederläßt.
Die Morgen gehen über: Ost bis West
Sausen die Farben. Erde blüht sich schön.

Zwischen den Sommer drängt und drängt Geschick.
Ob Roggenherden schmerzfrei galoppieren?
Die Schwester Muskel kommt, berauscht von Tieren,
Voller Tierschritte, das Geschlecht im Blick.

Den Mund voll Sonne, Hände sind Blutfetzen.
Man merkt es: man ist innen nasses Blut.
Die Frauen trocknen nicht das Herz für jeden.

Bis in die Zehen krümmt sich eine Wut
Zu reden: DU zu schaffen in den Sätzen
Eine der Felderbestien anzureden!

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 31 (1. Aug.)

Der Spaziergänger

Die Vegetation da ist nicht eine Tote.
Die Wälderinnen stehen warm und glatt.
Die Straße nimmt das kleine Häuserrote
Der Ebene in eine bleiche Stadt

Und steigt. Ebenen schweben ohne Ende.
Das Auge herrscht über die Grüns und Blaus.
Himmelumblasen schwenkt das Blut die Hände.
Das Herz, erstaunt, bricht in ein Lachen aus.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 23 (6. Juni)

Abend am Kanal

In weißen Wegen ziehn
Die Reiter in die Stadt,
Die lichtergelb bespien
Den blauen Abend hat.

Die Linden haben Trauer,
und ineinander lehnen,
Vom Haar bewachsen, grauer
Die Birkenmagdalenen.

Das Gas beginnt zu fisteln,
Sehr zart sich zu belauben,
Als blühten große Disteln,
Die auf das Wasser stauben.

Die Wellen werden nickeln.
Die Kähne im Kanal
Frieren beglänzt und wickeln
Sich in der Winde Shawl.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 15 (11. April)

Der Versuch zu lieben [Prosa]

Der Versuch zu lieben

Eine Novelle

Wilhelm kannte das hübsche Mädchen ein paar Monate. Es erfuhr alles.
Sein Kleid war von einer Damenhand geschmückt, die Schuhe oft gewöhnlich. Es lächelte maßvoll, man konnte nicht zu schnell schreiten – aber es sagte: „Ich bin nicht grazil, ich bin fett“ ..?
Sein Name war langweilig. Die Freunde hörten es Stefa Frühling nennen und nahmen Wilhelms Einfall hin; das hübsche Mädchen wurde gewöhnt, andere Worte zu hören.
Als sie spazieren gingen und Wilhelm sagte: „Ich hab dich gern, aber ich küsse die Mädchen nicht“, lächelte Stefa Frühling mit rot geöffneten Lippen, drohend: „Das sag ich meiner schönen Schwester!“
Sie gingen oft spazieren. Sie drangen unbesorgt in verlassene Gärten ein. Es war noch Winter da draußen vor der Stadt. Stefa Frühling erzählte, wovon sie nachts geträumt hatte, „vom Verreisen ans Meer“, „von einem Himmel ohne Häuser“ – und wurde Schwatzliese gescholten. Alsbald schrie sie mit großer Kunst wie eine Elster, wurde gelobt und echote alle Vogelrufe nach.
Abends fror Stefa Frühling, Wilhelm trug sie in seinem Paletot. Das große Wickelkind krallte die Hände in sein Haar, eine ungesunde Zärtlichkeit.
Er ging nach Hause: Sie ist nicht fett; das ist nicht präzis. Sie ist prick. Wie sie schrie, die pricke Drossel.
Stefa Frühlings Familie lud ihn ein. Während man plauderte, saßen auf dem Sofa blond und schwarzhaarig Mutter und Mädchen. „Dame und Damenjunges“, dachte Wilhelm.
Dann war der Winter zu Ende. Die Tage fielen auseinander, und Wilhelm verließ die Stadt.
Ihr braun gesiegelter Brief lag morgens zwischen dem Teeporzellan. Er gab ihn seinen Fingerspitzen zum Spielen. Das Format der Umschläge differierte, aber das graphische Bild auf den Briefen hatte photographische Ähnlichkeit. In gleichem Tempo schrieb sie ihre groben, flüchtigen Buchstaben über kleine und große Kuverts.
Im April reiste Wilhelm zurück, durch die Wälder. Die Sonne glänzte und schwankte. „Ich werde in der Stadt eine Postkarte schreiben: Ich bin hier, ich freue mich. Wir wollen spazieren gehen.“
In den Straßen fühlte er das Tupfen von Luft und Sonne in seinem Gesicht. Alles erwartete ihn hier. Alle Müdigkeiten und Ansammlungen waren fort.
Das Zimmermädchen brachte die eingegangenen Briefe. Wilhelm sah nach der Handschrift und bog einen zwischen den Fingern: er würde lächeln bei der Lektüre. Da fiel Stefa Frühlings Photographie dunkel über die roten und grünen Tropfen der Briefmarken auf den Schreibtisch.
Am gleichen Nachmittag sagte Stefa Frühling: „Ich werde heiraten.“
„Natürlich“, sprach er, „wirst du das.“
„Aber ich werde mich zunächst verloben und dann diese Spaziergänge aufgeben.“
„Wenn du verlobt bist, gratuliere ich dir. Ich habe auch ein kleines Geschenk. Denke an mich, solange es vorhält.“ Er hatte einen Karton Konfekt in der Tasche.
Sie sah ihn an. Die Größe seines Gefühls während der Reise machte ihn  verlegen. Werde ich mich morgen grämen? dachte er. Ich liebe sie, wenn sie fort ist; wenn ich sie sehe, tue ich sonst nichts mehr.
Er sagte zögernd: „Ich habe dich nicht geküßt. Ich wußte niemals, ob wir uns liebten. Ich weiß es wieder nicht.“
„Hattest du nicht Angst, daß ich dich verlassen könnte?“
„Ja, im Grunde war ich feige.“
„Und jetzt, da ich dich allein lasse, küssest du mich jetzt?“
„Vielleicht.“
Sie redeten; sie gingen achtlos mit den Worten um; sie infizierten sich mit ihnen.
„Wenn wir uns die Hände geben, sehen wir unsere Augen später nicht mehr?“
Stefas Frühlings Stimme veränderte sich: „Ich bin doch so unschlüssig. Ich muß jetzt allein sein. Ich muß mich entschließen. Ich werde alt. Heiraten, das ist wenigstens etwas Neues. Das andere wäre freilich schöner, was ich nicht bekomme. Wir kriegen es ja nicht fertig.“
„Ja“, sagte Wilhelm, „wir würden auch nicht mehr vollbringen als heiraten: Anekdoten zusammentragen, das Zufällige annehmen, weil es neu ist.“
„Wenn ich es nicht brauchte, wenn ich etwas anderes hätte; ich würde mich freuen, wenn ich nicht zu heiraten brauchte. Mein Mutter rät mir dazu. Sie hat Furcht, ich könnte wieder ausbrechen. Sie meint, wir sollen jetzt nicht zusammen sein.“
„Heirate“, sagte Wilhelm mitleidig und sah sie an und sah ihren Mund: Sehr hübsch, sehr hübsch, dachte er – – – aber was für Gefühle sonst!
Unterwegs zu den Häusern der Stadt begann er die Trennung zu erleben. Das Gesicht der Tage alterte.
Er fand in seinem Zimmer die Lampe ohne Öl. Es war niemand mehr in der Küche. Da setzte er sich an den Schreibtisch und roch an Stefa Frühlings Briefen. Die Sekunden stachen ihn. „Heute kann ich sie nicht mehr sehen!“ sagte er. Es wurde Schmerz in ihm.
Er machte Spaziergänge mit seinen Freunden und spielte abends Schach. Er bat sie in halbem Scherz, ihm eines ihrer Mädchen zu überlassen: „Ich altere frauenlos. Ich bin jähzornig geworden. Suizid drängt sich auf. Ich begreife nicht, daß ich keine Frauen habe.“
„Wir haben auch nur unser Auskommen, keine Rede von Ausschweifung. Uns allen fehlt das Tierherz des Zuhälters.“
„Was soll ich tun?“
„Dich um nichts kümmern. Die Frühling heiraten lassen, wen sie will. Wie wolltest du sie lieben, da es Liebe nicht gibt!“
„Ist also mein Gefühl Schwindel? Ich bringe es nie heraus.“
„Pah, möchtest du mit ihr schlafen? Du lügst, wenn du nicht geil bist!“
Das Gespräch ging weiter, doch Wilhelms Gedanken versteckten sich hier. Er verlangte Hilfe von der Skepsis gegen die Leidenschaft.
In der Nacht fand er keinen Schlaf. Sein Körper blieb heiß. Die Vorstellung seines Verlustes wurde maßlos. Trotzdem wußte er: „Ich liebe sie nicht“, und hatte Stöhnen in der Kehle.
„Die schlimmen Tage werden nicht heilen!“ Er versuchte es mit Sexualität, aber die Fleischesjugend einer Kokotte erlag seinen seelischen Strapazen. Er holte sich Ekel und nervöse Tränen und saß den Rest dieser Nacht halluzinierend am Schreibtisch.
Am dritten Abend besuchte er eine Gesellschaft. Das Haus leuchtete wie ein fremder Stern.
Stefa Frühlings Mutter wurde ein wenig verstört, ein wenig böse, als sie ihn sah, sagte:
„Herr Kreißler, wir wollen uns aussprechen wie ein Mensch zum andern“, sagte: „Die Kleine ist zu Hause und weint. – -“ Er sagte: „Ah, das Kind einer Dame!“ Zitternd. Freudeweiß. – –
Er ging in der Straße. Seidener Fluß Erotik! Luft, die Frauen mit den Brüsten gepreßt hatten, fiel auf ihn. Im Café schrieb er ihr.
„Bleibe meine Freundin! Ich habe niemanden. Ich gehe zu Grunde, wenn du mich verlässest. Ich altere frauenlos. Ich kenne die Dirnen aller Stände, aber ich bin kein Tier mehr. Meine Güte wurde jähzornig nach und nach. Du hast mein Herz geboren, nun herze es – du junge Mutter!“
Sie treffen sich. Mondabends. Der Garten ist grün und die Luft hell. Wilhelm redet nicht mehr. Alles ist entstellt. Er sieht ihr Gesicht und empfindet Schweigen und Haß. Er sitzt schmerzmüde bei ihrer Angst. Er beobachtet die Mädchenangst in ihren Augen. Er spricht freundlich mit ihr und küßte sie nicht. Er genießt die Vergeltung für das, was er an drei Tagen gelitten hat. Seine Grausamkeit erfrischt ihn. Er hilft ihr nicht, sieht ohne Mitleid, daß ihre Liebkosungen täppisch und jungfräulich bleiben und bekommt einen Schluck Küsse über die Lippen. Ihr Kuß ist mager und hat den Geruch von Tränen.
Es dauert eine lange halbe Stunde, dann sagt Wilhelm: „Wir wollen gehen.“

Erstveröffentlichung:
Die weißen Blätter Bd. 1, Jg. 1913/14, 2. Semester, Nr. 7 (März 1914)

Auf der Chaiselongue

Wir haben nicht der Sonne Sympathien.
Und man verspricht sich zwecklos in Gebeten.
Die Negerin, das Pferd und den Ästheten
Frißt Erde auf. Sie können nicht entfliehn.

Gott ist der Freund der Bäume und der Sterne.
Im Hochgebirge wilde Tannen schreien.
Orion hängt über dem All im Freien.
Monumental. Maßlos. In tauber Ferne.

Im Hirn Gelächter. Ich sprach: die Freiheit!! –
Das Weib ist populär. Der Koitus.
Das wadenwarme Bett. Man friert und freit. –

Gefüllt mit Zähnen ist zuletzt der Kuß. –
Komm du doch, Freund, verkürze mir die Zeit,
Mein fröhlich lärmender Revolverschuß.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 9 (28. Feb.)

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